Wir erinnern an Herrn Franz Sengle
Mit der Verlegung dieses Gedenksteines vor wenigen Minuten (Jahr 2015) haben wir eines Menschen gedacht, der seinen öffentlichen Widerstand mit dem Leben bezahlte. Vor 74 Jahren wurde Herr Franz Sengle im KZ Dachau ermordet. Leidtragende dieser dramatischen Situation war auch die Familie – die Ehefrau, die Kinder, die Schwiegereltern.
Wer ihn denunziert hat, für seine Verhaftung verantwortlich war, lässt sich konkret nicht nachweisen, ist auch nicht von Bedeutung. Festzuhalten ist, dass noch heute Mut dazugehört, das erste zivile Opfer des NS-Regimes in unserer Gemeinde, Franz Sengle, zu würdigen, denn das Verständnis hierfür ist nicht uneingeschränkt. Bereits 2009 beabsichtige die Gruppe „Wider das Vergessen“ auch für Herrn Sengle einen Stolperstein zu verlegen. Die damalige Absage der Familie, beeinflusst von außen, die Sache doch endlich ad acta zu legen, wurde bedauert, aber selbst verständlich akzeptiert. Heute hat die Gruppe hierfür größtes Verständnis.
Zu tief hat dieses Ereignis das Leben der Familie geprägt. Zu tief sind die Wunden, die sie durch die Ächtung der Mitbürger davontrugen. Deshalb sind wir heute hier und gedenken Franz Sengle, aber auch der Lebenden und Verstorbenen der Familie, die unter dieser Situation sehr zu leiden hatten.
Vor über zehn Jahren recherchierte Norbert Baumann, fasste die Ergebnisse zusammen und ließ sich die Richtigkeit der Quellen von dem damaligen Vorsitzenden des Historischen Vereins Hausach, Herrn Bernd Schmid, bestätigen. Herr Franz Sengle wurde am 07.07.1898 in Tennenbronn geboren. Zweimal stoßen wir bei den Recherchen auf die Berufsbezeichnung „Maschinenbauer“. Auch verlief die Jugendzeit des intelligenten jungen Mannes mit seinen Eltern nicht konfliktfrei. Mit dem vollendeten 17. Lebensjahr war man im 1. Weltkrieg wehrpflichtig. So war er als 17jähriger Kriegsteilnehmer und wurde verwundet.
Sein beruflicher Werdegang lässt sich nicht dokumentieren. Gesichert ist, dass seine
berufliche Erfahrung und elektrotechnischen Kenntnisse den Landwirten der Region zu Gute kamen. Innovativ für die entlegenen Höfe war die Stromgewinnung durch Wasserkraft, so u. a. im Laßgrund, im Hohlengrund und weiteren Höfen. Hiermit, aber auch durch die Reparatur von landwirtschaftlichen Maschinen und mechanischen Anlagen bis hin zu der Instandsetzung von Nähmaschinen verdiente er seinen Lebensunterhalt.
Meist war er mit dem Fahrrad unterwegs, so im Harmersbach, im Wolftal mit seinen Nebentälern und in der Gemeinde Einbach. Hier im Laßgrund lernte er seine zukünftige Frau Anna kennen, die mit ihren Eltern Richard und Pauline Echle das Anwesen bewohnte und bewirtschaftete. Das Ehepaar Echle hatte das primitive Baumfällerhaus, „s´Kerne am Wald“ von der Gemeinde Einbach gepachtet.
Die Eltern waren gegen die Verbindung und die Heirat der Tochter mit dem 17 Jahre älteren Franz Sengle. Trotz aller Widerstände fand die Hochzeit im Mai 1935 in der Zeller Wallfahrtskirche statt. Zwei Padres waren die Trauzeugen. Die Kinder Karl, Erika und Maria liebten ihren naturverbundenen Vater. Er züchtete Rosen; war Imker. Eine Tochter erinnert sich daran, wie sie mit ihrem Vater dem Ruf eines Kuckucks folgten und er ihr ganz in der Nähe des scheuen Vogels dessen Lebensweise erklärte. Unvergessen auch die seltenen Augenblicke, in denen der Vater den Kindern ein Stück Schokolade zukommen lassen konnte.
Tochter Hildegard kam nach der Verhaftung ihres Vaters im Jahr 1940 auf die Welt.
Bei allem Vorbehalt über Zeugenaussagen nach einer solch langen Zeit, erhalten wir
dennoch einen gewissen Einblick, ergibt sich aus anscheinend unbedeutenden Begebenheiten ein Bild von Franz Sengle.
Zwei Zeitzeugen berichteten davon, dass Herr Sengle einige Male kurzzeitig im Gefängnis gewesen sei. Er hatte ja keinen festen Arbeitsplatz.
Weitere Zeugen erinnerten sich:
„Dadurch, dass er noch von auswärts kam, hatte er es doppelt schwer. Wenn man sich einmal was zu Schulden kommen lässt, ist man immer verdächtig.“
„Sengle hatte keine feste Arbeitsstelle und arbeitete mal hier und mal da. Er war kein unehrlicher Mann.“
-Zwei ältere Frauen von Oberwolfach-Gelbach berichteten:
„Er kam und reparierte die Dreschmaschine oder andere Maschinen. Wir hatten immer Angst als Kinder vor ihm.“ - „Wieso?“ - „Ja der hat doch geklaut!“ – „Was hat er denn gestohlen?“ - „Äpfel! Wenn wir auf der Höhe Äpfel vom Boden aufheben mussten, dann waren sie schon weg.“ - „Mehr nicht?“ -
Die zweite Frau ergänzte: „Nein, aber immer war er es auch nicht“,.
-Ihr Bruder meinte:
„Mein Vater hatte eine gute Meinung vom Franz Sengle und er wusste gar nicht, was die Leute hätten. „Ich kann mich an nichts Negatives erinnern.“
Herr Baumann, Herr Welschbach und Herr Schoch waren vor wenigen Wochen nochmals auf einem der Wege, die Franz Sengle immer wieder genommen hatte, hinunter in den Gelbach. Hier trafen sie den oben erwähnten Zeitzeugen nochmals. Er berichtete, dass er sich gut an folgenden Vorfall erinnern könne:
„Franz Sengle kam mit dem Rad vom Obertal, hielt an und fragte meinen Vater, ob er Oel haben könnte, seine Bremsen seien heiß gelaufen.“
Herr Sengle wollte und konnte sich nicht verbiegen. Klar und unmissverständlich äußerte er ungeachtet der NS-Sympathisanten im Tal seine Meinung gegenüber den Nationalsozialisten:
„Ich werde niemals zulassen, dass sich meine Kinder im BDM oder der HJ engagieren!“
Die interviewten Einbacher bestätigten ausnahmslos, dass der Grund der Verhaftung
seine politische Gesinnung gewesen wäre, die er öffentlich kundgetan hatte, möglicherweise auch in der Gaststätte im Dörfle.
„Ich denke, dass er wegen den politischen Aussagen gegen das Regime inhaftiert worden ist. Man kam nicht so schnell in den Krieg, wenn man genügend meldete oder sonst regimetreu war.“, so ein Zeuge.
Die nachfolgende eidesstattlichen Erklärung des ehemaligen Bürgermeisters von Einbach, Herr Augustin Klausmann, steht im Zusammenhang mit dem Entnazifizierungsverfahren gegen den damaligen Ratsschreiber Vetterer und ist in einem Schülerprojekt der Graf-Heinrich-Schule Hausach dokumentiert:
Eidesstattliche Erklärung
„Herr Augustin Klausmann von Einbach (ehemaliger Bürgermeister) bestätigt hiermit durch eigenhändige Unterschrift, dass der Ratsschreiber Heinrich Vetterer im Falle Franz Sengle von Einbach, welcher s. Zeit in das Konzentrationslager Dachau gebracht wurde und dort verstarb, derselbe nicht gehört, noch von irgend einer Behörde darüber einvernommen wurde. Über die Angelegenheit der Verbringung des Genannten in das KZ ist anderweitig entschieden worden. Hiermit ist die Erklärung gegeben, dass Vetterer in genanntem Falle nicht beteiligt war, also neutral ist, und somit in dieser Sache nichts zu tun hatte. „
Einbach, den 26. Janunar 1946
Augustin Klausmann
Ein weiterer Zeuge bestätigt mehrfach, dass ein ihm persönlich bekanntes maßgebliches NSDAP-Mitglied aus Einbach für die Verhaftung mitverantwortlich war. Diese Person wies bei der Befragung diese Anschuldigung zurück, er kenne den „Sengle“ gar nicht.
Wie war es möglich, unliebsame Personen schnell und nachhaltig aus ihrem Lebensumfeld zu verbannen?
Einen Tag nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 unterzeichnete der damalige Reichspräsident Hindenburg die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“. Die Polizei wurde hiermit ermächtigt, politische Gegner ohne Gerichtsbeschluss unbefristet in „Schutzhaft“ zu nehmen. Es war somit ein Leichtes „staatsfeindliche Elemente“ auszuschalten. Knapp einen Monat später, am 22. März 1933, wurden in das KZ Dachau, dem ersten Konzentrationslager und somit Vorbild für alle
nachfolgenden, die ersten „Schutzhäftlinge eingeliefert. Ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der Verordnung waren im Reich bereits ca. 30 000 Personen inhaftiert. Man wusste von der Existenz der Lager, aber die Einschüchterung funktionierte, die Angst war groß, die Freigelassenen zum Schweigen verpflichtet.
Herr Franz Sengle wurde 1940 vor der Geburt des vierten Kindes Hildegard im Rahmen dieser politischen Säuberung zur „Polizeilichen Sicherungsverwahrung“ (PSV) zuerst ins Gefängnis nach Wolfach verbracht.
Wie die Verhaftung ablief, wissen wir nicht. Wenn wir nach der Gedenkfeier den Laßgrund verlassen, haben wir die Gewissheit, dass jeder die Freiheit hat, diesen Ort
wieder aufzusuchen, sich niederzulassen, Feste zu feiern. Es ist ein Ort der Begegnung geworden.
Für Franz Sengle jedoch führte kein Weg zurück. Richard Echle fuhr nach Wolfach, um mit seinem Schwiegersohn zu sprechen.
„Hier gibt es keinen Franz Sengle!“ – „Ich habe ihn gesehen, mit der Sträflingskleidung.“
Ein letzter Kontakt kam zustande.
Ab dem 24. August 1940 wird er unter der Häftlingsnummer 15468 im KZ Dachau geführt. Eine Verurteilung liegt nicht vor. Knapp zwei Wochen später, am 03.09.1940, erfolgte die Überführung in das KZ Sachsenhausen - Häftlingsnummer 23467.
Durch die Nähe zu Berlin und damit auch zur Gestapozentrale in der Prinz-Albrecht- Straße hatte dieses Lager eine Sonderrolle im KZ-System. Ein großes SS-Kontingent
war hier stationiert. Das Lager diente als Ausbildungsort für KZ-Kommandanten und das Bewachungspersonal im ganzen NS-Machtbereich ähnlich wie das KZ Dachau. Aus den Archivunterlagen des KZ Dachau geht hervor, dass Herr Sengle am 22.01.1941 aus dem KZ Neuengamme zurück nach Dachau verlegt wurde. Das heißt, dass er im Herbst 1940 auch Häftling des KZ Neuengamme war, dem größten
Konzentrationslager in Norddeutschland und bis 1940 Außenlager des KZ Sachsen-
hausen. Seine Einweisung fiel in die Zeit, in der die Häftlinge zum Ausbau des Lagers, zum Kanalbau und in den nahen Tongruben eingesetzt wurden. Hamburg sollte
als Tor zur Welt eine repräsentative bauliche Neugestaltung des rechten Elbufers erhalten. Nach knapp sieben Monate im KZ Dachau wurde Herr Sengle von seinem Martyrium erlöst, eines von über 41.000 Schicksalen allein in diesem Konzentrationslager.
„Der Grund für die Verfolgung und die Inhaftierung geht aus unseren Unterlagen nicht hervor.“,
so teilte das Archiv Dachau im Rahmen der Recherchen mit. Der Briefträger Josef Eisenmann überbrachte die Todesnachricht aus Dachau. Im Totenbuch der Pfarrgemeinde St. Mauritius in Hausach finden wir im „Jahrgang
1941“ folgenden Eintrag:
Name: Franz Sengle
wohnhaft: in Dachau und Einbach
Beruf: Maschinenbauer
Alter: 43 Jahre
Todesart: Darmkatarrh
Todestag: 13. August 1941
Beerdigung: 13. Oktober 1941
Ernst Würth, Vikar
Und die Zurückgebliebenen, die Familie?
Bei seiner Verhaftung waren Karl sechs, Erika vier und Maria zwei Jahre alt. Die jüngste Tochter Hildegard wurde während seiner Inhaftierung im KZ Sachsenhausen
geboren.
Das Leben im Laßgrund war geprägt von tiefster Armut. In der Küche war nur ein Drahtgeflecht, damit der Rauch abziehen konnte, das Wasser im Winter eingefroren, die Wände im Haus mit einer Eisschicht überzogen. Die von Franz Sengle installierte Stromversorgung funktionierte nicht mehr. Den Eigentümer, die Gemeinde Einbach, interessierte der Zustand des Gebäudes wenig – hatten doch die Regimetreuen das Sagen im Tal.
Unterstützung erhielt die Familie von Lehrer Bohe, als Staatsdiener dem System entweder freiwillig oder gezwungenermaßen nicht abgeneigt. Solange die Kriegsmaschinerie noch erfolgreich lief, sorgte er dafür, dass die Kinder ab und an Kleidung und Schuhe erhielten. Auch übersah er, wenn die Sengle- Kinder in der Schule den Hitlergruß nicht erwiderten. Er versorgte die Familie mit Petroleum und Kerzen, die daheim für ein wenig Licht in dieser in jeglicher Hinsicht trostlosen und dunklen Zeit sorgten.
Zur Familie von Ratsschreiber Vetterer bestand ein gutes Verhältnis. Die drei Mädchen erhielten eine Puppe – etwas ganz Besonderes. Wenn auch selten, dennoch unvergessen die Augenblicke, wenn der damalige Bürgermeister Klausmann der Familie Brot vorbeibrachte, wenn er im Hintertal Holz machte.
Die Mutter forderte die Kinder immer wieder auf, ehrlich zu sein, immer die Wahrheit
zu sagen, nicht negativ aufzufallen. Dennoch war die Ablehnung im Tal greifbar: Von einem Lehrer wurden Karl und Erika im Gegensatz zu den Mitschülern nicht beim Vornamen gerufen, sondern nur mit „Sengle“.
Auch war sich mancher Mitbürger, manche Mitbürgerin während der Kriegszeit, aber auch danach nicht zu schade, den vernichtenden Vorwurf zu äußern:
„Euer Vater ist/war doch Zuchthäusler!“
Innerhalb der Familie folgten Jahrzehnte des Schweigens, des Verdrängens, des
Haderns.
Warum hat unser Vater nicht den Mund gehalten, warum hat er uns dies angetan? Oder - dürfen wir stolz sein über seinen Mut, seine Überzeugung trotz größter Gefahr
offen auszusprechen?
Die Verlegung des Stolpersteines gibt heute eine befreiende Antwort:
74 Jahre nach der Ermordung verneigen wir uns vor einem außergewöhnlichen
Bürger unserer Gemeinde - Herrn Franz Sengle.
Wohnhaus der Familie Sengle im Laßgrund
Die Urenkelin bei der Gedenkfeier Manfred Schoch erinnert an Franz Sengle